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Die verborgene Existenz des William Shakespeare
[The hidden existence of William Shakespeare]
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“William Shakespeare.
Dichter und Rebell aus dem katholischen Untergrund. Ein Gespräch
mit Hildegard Hammerschmidt-Hummel”, Ibykus. Zeitschrift
für Poesie, Wissenschaft und Staatskunst (4.
Quartal 2001), S. 44-51 (Interviewer: Muriel Mirak-Weißbach
und Elisabeth Böttiger, Interviewte: H. Hammerschmidt-Hummel. |
“Die Anglistik-Professorin Dr. Hammerschmidt-Hummel
hat in der Shakespeare-Forschung für Aufsehen gesorgt. Sie hat zum
Beispiel durch akribische, teilweise sogar kriminalistische Untersuchungen
den Nachweis über die Echtheit des Flower-Porträts erbracht
und bewiesen, daß es sich bei der sogenannten Darmstädter Shakespeare-Totenmaske
um das Original handelt. Wichtiger für das Verständnis der Werke
Shakespeares und ihrer zeitgeschichtlichen Einordnung ist allerdings ihre
Entdeckung, daß dieser als Katholik in der Zeit der Katholikenverfolgungen
in England zwischen 1564 und 1616 ein Doppelleben führen mußte.
Muriel Mirak-Weißbach und Elisabeth Böttiger sprachen am 2.
Juni 2001 mit Frau Hammerschmidt-Hummel.
Ihr kürzlich im Herder Verlag erschienenes neues Buch Die verborgene
Existenz des William Shakespeare hat für Aufsehen gesorgt. Die Art
und Weise, wie Sie an das Thema herangegangen sind, ist anders als bei
normalen akademischen Werken. Wie wurde die Idee sozusagen geboren?
HAMMERSCHMIDT-HUMMEL: Die Idee wurde geboren, als ich dabei war, die Ergebnisse
meiner Echtheitsprüfungen an vier Shakespeare-Bildnissen sowie die
Geschichte dieser Bilder und Büsten in Buchform darzustellen und
mich gerade sehr intensiv mit dem sogenannten Flower-Porträt befaßte.
Unter diesem Porträt befindet sich ein Madonnen-Bild aus dem 15.
Jahrhundert. Das hat den Anstoß für meine Forschungen gegeben.
Ein (wenn auch übermaltes) Marienbild zu besitzen, war im protestantischen
England gefährlich. Sein Eigentümer setzte sich dem Verdacht
aus, Katholik zu sein. Die Frage nach Shakespeares Religion ist nicht
neu. Sie mußte aber bisher offen bleiben. Ich habe diese Frage erneut
gestellt und den gesamten Komplex noch einmal ganz neu aufgerollt.Dabei
hatte ich das große Glück, nicht nur bekannte Quellen neu interpretieren
und in ihnen kodierte Passagen entdecken und entschlüsseln, sondern
auch ganz neue textliche und bildliche Quellen aufspüren und erschließen
zu können. Rein werkimmanent läßt sich die Religion Shakespeares
nicht nachweisen. Das haben ganze Forschergenerationen vor mir versucht.
Dies ist nur mit externen zeitgenössischen Dokumenten möglich.
Insgesamt konnte ich mehrere historische Quellen ausfindig
machen, die für das Leben, die Biographie und die Religion Shakespeares
von immenser Wichtigkeit sind. Sie versetzten mich in die Lage, beweisen
zu können, daß der Dramatiker Katholik war. Darüber hinaus
gelang mir der Nachweis, daß Shakespeare aktives Mitglied im katholischen
Untergrund war. Im Testament des katholischen Adeligen Alexander Hoghton
aus dem Jahre 1581 wurde William Shakespeare (alias Shakeshafte) nicht
nur als Schauspieler und Privatlehrer erwähnt, sondern auch als Mitglied
einer dort verdeckt angeführten elfköpfigen Geheimorganisation,
offensichtlich einer Unterorganisation der 1580 in Rom gegründeten
Catholic Association. Diese diente dem Zweck, die im damaligen England
blutig verfolgten Priester der katholischen Kirche zu schützen, vor
allem die Priester der englischen Missionsbewegung, die Jesuitenpatres
Edmund Campion und Robert Parsons sowie die 50 Priester, die sie begleiteten.
Diese Ergebnisse kamen auch für mich überraschend, wußte
ich doch, daß englische Shakespeare-Forscher - allen voran E.A.J.
Honigmann - sich sehr intensiv gerade mit dem Testament des Alexander
Hoghton befaßt hatten, ohne seine Verschlüsselungen zu bemerken.
Honigmann befand schließlich, Hoghtons letztwillige Verfügung
enthalte exzentrische und unklare Textstellen. Das ist richtig, denn der
Katholik Hoghton hatte sich - absichtlich - kryptisch, d.h. kodiert ausgedrückt.
Da war etwa von Schauspielern (“players”) die Rede, um deren
künftige Unterbringung und Versorgung sich der Testierende ungewöhnlich
große Sorgen machte. In Wirklichkeit aber waren mit “players”
Priester gemeint. Es war ferner die Rede von “play clothes”,
mit denen die Meßgewänder der Priester gemeint waren. Zudem
wurde von “instruments belonging to musics” gesprochen. Dies
ist auffällig umständlich formuliert. Denn normalerweise würde
man “musical instruments” (“Musikinstrumente”)
sagen. Gemeint waren ganz offensichtlich die Instrumente, die für
das Lesen der Messe benötigt wurden. Da alles dies aber - wegen der
Gefahr für Leib und Leben - nicht offen ausgesprochen werden durfte,
benutzte der Testierende Kodierungen. Mit dem richtigen Schlüssel
ließ sich die eigentliche Bedeutung des Textes erschließen,
ließen sich Art und Ziele von Hoghtons geheimer Organisation leicht
durchschauen. Alexander Hoghton, so stand nun fest, hatte in seinem Testament
Vorkehrungen getroffen, die das Wohlergehen und den Schutz seiner Priester
auch nach seinem Ableben sichern sollten.
Die streng hierarchisierte Gruppe mit einem Kopf und
drei Rängen (Shakespeare erscheint übrigens in Rang eins) wurde
auf höchst komplizierte Weise finanziert. Die Bezahlung der Mitglieder
erfolgte ein Leben lang. Durch Treuhänder sorgte Hoghton dafür,
daß das System der Beschaffung und Verteilung der Gelder auch nach
seinem Tod funktionierte. Alles dies wurde bezeichnenderweise rund ein
Jahr nach dem Beginn der jesuitischen Remissionierung Englands (1580)
verfügt und war gründlich vorbereitet worden.
Die englischen Missionspriester waren im April 1580 mit
dem Segen Gregors XIII. in Rom aufgebrochen. Sie zogen über Mailand,
wo sie von dem berühmten Kardinal Carlo Borromeo (1538-1584) die
sog. Borromeoschen (bzw. jesuitischen) Testamente erhielten, schriftliche
Bekenntnisse des katholischen Glaubens, die sie zu Tausenden in England
verteilten. In ihrer Heimat wurden sie von Mitgliedern der Catholic Association
in Empfang genommen, bei denen es sich um junge, ortsansässige englische
Katholiken handelte, die die Priester begleiteten und schützten und
ihre Aufnahme in den Häusern des Landadels vorbereiteten. Sie waren
sozusagen ortskundige Pfadfinder. Der Landadel war praktisch durchweg
katholisch geblieben. Er gewährte den Priestern heimlich Unterschlupf
und nahm insgeheim ihre Seelsorge in Anspruch. Der Catholic Association
gehörte auch der junge Charles Bassett an, ein Urenkel von Thomas
Morus.
John Shakespeare, der Vater des Dramatikers, hat von
Campion oder Parsons ein jesuitisches Testament erhalten und es unterzeichnet.
Das ist ein klarer Beweis für seinen katholischen Glauben. Man hat
sein Exemplar durch Zufall 1757 wieder aufgefunden, und zwar versteckt
im Dachgestühl seines Hauses in der Henley Street in Stratford. Man
hielt das Original, das heute nur noch abschriftlich existiert, anfangs
für eine Fälschung. Aber davon ist schon lange nicht mehr die
Rede. Schon in elisabethanischer Zeit hat man bei Hausdurchsuchungen,
die von der Regierung angeordnet wurden, weitere Testamente dieser Art
gefunden. John Shakespeare hat sein geistliches Testament wohl im Zusammenhang
mit den Razzien versteckt, die nach der Aufdeckung des katholischen Arden-Somerville-Komplotts
erfolgten, als viele Mitglieder der Arden-Familie eingesperrt wurden.
Das Familienoberhaupt Edward Arden, den man in dieses Komplott hineingezogen
hatte, wurde wie ein gemeiner Verbrecher gehängt. Er war ein entfernter
Verwandter von Mary Arden, der Mutter von William Shakespeare. Schon dies
war Grund genug, das jesuitische Testament verschwinden zu lassen. Denn
wer ein solches Schriftstück besaß, galt als Hochverräter.
Was war Ihre Methode? Sie haben mit einer Hypothese gearbeitet und
die entsprechenden Belege quasi Stück für Stück erbracht.
Wie kamen Sie beispielsweise darauf, anzunehmen, daß Shakespeare
in Douai bzw. Reims studiert hat?
HAMMERSCHMIDT-HUMMEL: Man muß den Fall des Exilkatholiken William
Allen betrachten. Allen, ein ehemaliger Oxforder Universitätslehrer,
emigrierte in den 60er Jahren nach Flandern. Er sah das Problem, daß
es bald in England keinen Priesternachwuchs mehr geben werde, und gründete
1568 mit Unterstützung des Papstes und des Königs von Spanien
in Douai im damaligen Flandern (heute Frankreich) ein katholisches englisches
Kolleg, das sogenannte Collegium Anglicum. Diese Ausbildungsstätte
bot eine geisteswissenschaftliche Grundausbildung unter katholischem Vorzeichen.
Darauf aufbauend war das Priesterstudium möglich. Allens Kolleg war
ausgesprochen beliebt und hatte rasch großen Zulauf. Die Söhne
aus katholischen Bürger- und Adelsfamilien studierten auch deshalb
dort, weil sie dem in Oxford und Cambridge geforderten Supremats-Eid aus
dem Weg gehen wollten. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an das berühmte
Beispiel des Thomas Morus, der unter Heinrich VIII. den Suprematseid verweigerte
und zum Märtyrer wurde. Elisabeth I. hat die Supremats-Akte wieder
in Kraft gesetzt. Elisabethanische Amtsträger, aber auch die Studierenden
der beiden Universitäten, mußten diesen Eid schwören.
Die katholischen Studierwilligen umgingen ihn, indem sie sich an Allens
Kolleg einschrieben.
Shakespeare kam aus einem streng katholischen Elternhaus. Doch nicht nur
seine Eltern und Verwandten, sondern auch seine Lehrer bekannten sich
zum katholischen Glauben. Schulmeister Simon Hunt, von dem der Dichter
vier Jahre lang unterrichtet wurde, trat sein Amt in Stratford just in
dem Jahr an, als William 1571 sieben Jahre alt war und das Lateinschulalter
erreicht hatte. Er ging 1575 nach Douai und wurde Priester. Der Stratforder
Lateinschüler Robert Debdale, Shakespeares Schulkamerad, begleitete
ihn und wurde gleichfalls Priester. Hunt ging anschließend nach
Rom, wurde Jesuit und 1580, als die jesuitische Remissionierung Englands
begann, Nachfolger von Robert Parsons im Amt des englischen Beichtvaters
am Stuhl von St. Peter.
Es gibt einen Beleg dafür, daß John Shakespeare als Kämmerer
von Stratford-upon-Avon u.a. Gelder an einen Hilfslehrer gezahlt hat,
die nicht offiziell in den Büchern standen. Es gibt sogar Anhaltspunkte
dafür, daß dieser Hilfslehrer mit William Allen identisch war.
Bei genauerer Betrachtung und Deutung der historisch-biographischen
Details stellte ich fest, daß William Shakespeare praktisch nur
an William Allens Collegium Anglicum studiert haben konnte. Denn nur dieses
Kolleg bot 1578, als William 14 Jahre alt war und damit das College-Alter
erreicht hatte, die einzige Studienmöglichkeit für junge englische
Katholiken. Da der Dichter in jungen Jahren Schulmeister auf dem Lande
war, nämlich - wie nun feststeht - in dem katholischen Adelshaushalt
der Hoghtons in Lancashire, muß er ein College besucht haben. In
Frage kommt daher nur Allens Kolleg in Doaui, das sich von 1578 bis 1593
in Reims befand.
Im Jahre 1578 verpfändete John Shakespeare einen großen Teil
des Vermögens seiner Frau für 40 Pfund. Er brauchte also sehr
schnell viel Bargeld. Dieses dürfte er für die kostspielige
Ausbildung seines Sohnes auf dem Kontinent verwendet haben. Denn er hat
in dieser Zeit keine größere Anschaffung getätigt, und
die hohen gesetzlichen Kirchenstrafen (20 Pfund monatlich für das
Fernbleiben vom anglikanischen Gottesdienst) fielen erst mit Inkrafttreten
des antikatholischen Strafgesetzes von 1581 an. Letzteres war übrigens
eine Reaktion der Regierung auf die 1580 begonnene jesuitische Missionsbewegung.
1578 lagen die Strafen noch bei wenigen Schillingen. John Shakespeare
hätte dafür nicht einen so hohen Betrag an Bargeld aufnehmen
müssen. Es verblüfft, daß er das Geld in der Zeit von
1578 bis 1580 benötigte, also genau für jene zwei Jahre, in
denen Williams College-Ausbildung auf dem Kontinent stattgefunden haben
muß. 1580 dürfte der Dichter bereits Privatlehrer im Haushalt
der Hoghtons in Lancashire gewesen sein, wo er 1581 auch in der oben beschriebenen
Funktion testamentarisch besonders hervorgehoben und bedacht wurde.
Es gibt noch einen weiteren wichtigen Punkt: 1580 mußten John Shakespeare
und 140 weitere Bürger aus ganz England sich vor einem der drei höchsten
Gerichte Englands verantworten und, mit entsprechenden Bürgschaften
abgesichert, erklären, den Frieden gegenüber der Königin
aufrecht zu erhalten. Bei diesen 140 Personen dürfte es sich um die
Väter der Studierenden an Allens Kolleg in Reims gehandelt haben.
Es war der englische Botschafter in Paris, der seiner Regierung damals
geraten hatte, sich an den Eltern zu rächen, was dann wohl auch geschah.
John Shakespeare hat es vorgezogen, nicht zu erscheinen. Ich habe während
der Entstehungszeit meines Buches die Diarien von Douai durchgesehen und
dabei festgestellt, daß es eine ganze Reihe von Namen gibt, die
teilweise oder ganz ausgelöscht wurden. Mehrere Male wurde der Name
Guielmus, der latinisierte Name für William, stehen gelassen und
nur der Nachname gestrichen. Das betrifft die Jahre 1578 und 1580, in
denen William angekommen und exmatrikuliert worden sein muß, es
betrifft jedoch auch 1587, das Jahr unmittelbar vor der Armada.
Zwischen Allens Kolleg und den Hoghtons gab es sehr enge
Verbindungen. Der Familienchef von Hoghton Tower war Emigrant, lebte in
Flandern und war ein enger Freund von Kolleggründer William Allen.
Die Vermittlung des jungen Shakespeare nach Lancashire hätte somit
auch auf direktem Weg vom Studienort Reims nach Hoghton Tower erfolgen
können.
Was hat er in Reims studiert? Der Dramatiker Ben Jonson meinte, Shakespeare
habe die klassischen Sprachen nicht beherrscht.
HAMMERSCHMIDT-HUMMEL: Ben Jonson hat sich über die angeblich geringen
Latein- und Griechischkenntnisse Shakespeares lustig gemacht. Er spricht
von “little Latine and lesse Greeke”. Doch hat Jonson niemals
bestritten, daß Shakespeare Kenntnisse dieser alten Sprachen hatte.
Griechisch aber wurde in der Lateinschule nicht gelehrt. Als Jonson dies
sagte, lag Shakespeares Ausbildung viele Jahre zurück. Wichtig ist,
daß Shakespeares Werk von akademischer Ausbildung und der Kenntnis
der alten Sprachen zeugt. Da der Dichter aber nachweislich weder in Oxford
noch in Cambridge studiert hat und Allens Kolleg bisher als Ausbildungsstätte
nicht in Betracht gezogen wurde, kam man sogar auf die völlig aus
der Luft gegriffene Vermutung, der Bürgersohn aus Stratford-upon-Avon
könne das berühmte Werk nicht geschrieben haben.
Interessanterweise nennt Shakespeare in Der Widerspenstigen
Zähmung den Studienort Reims, wo ein junger Scholar in Griechisch,
Latein und in anderen Sprachen ausgebildet wurde. Dies ist ein deutlicher
Hinweis auf das dortige Collegium Anglicum, zumal es damals in Reims keine
Universität gab. Shakespeare spricht hier allem Anschein nach aus
eigener Erfahrung. Es ist zudem aufschlußreich, daß der Dichter
mit der Nomenklatur der Klassen von Douai (bzw. Reims) vertraut war, und
zwar mit den Namen der Klassen des geisteswissenschaftlichen Grundstudiums
(“lower studies”), mit “Rudiments”, “Grammar”,
“Syntax”, “Poetry” und “Rhetoric”,
nicht aber mit denen der “higher studies” (Priesterstudium).
Das Gros der Studierenden erhielt in Allens Kolleg lediglich eine geisteswissenschaftliche
Grundausbildung. Die Idee, daß auch die katholischen Shakespeares
ihren Sohn dort ausbilden ließen, liegt daher sehr nahe. Sie wird
unterstützt durch die Bargeldbeschaffung John Shakespeares für
genau jene zwei Jahre, die für Williams Ausbildung auf dem Kontinent
in Frage kommen.
Und wie haben Sie die Frage der “lost years”
gelöst?
HAMMERSCHMIDT-HUMMEL: Es gibt sieben Jahre im Leben William Shakespeares
(1585-1592), über die wir bisher rein gar nichts wußten und
die daher die “lost years” genannt wurden. Ich nenne in meinem
Buch eine Reihe von Motiven für Shakespeares Weggang, darunter die
Existenz eines jesuitischen Testaments in seinem väterlichen Haus,
das mit größten Gefahren verbunden war, die Verwandtschaft
seiner Mutter mit den Beteiligten eines katholischen Komplotts, die Ausbildung
seines Lateinschullehrers Simon Hunt zum katholischen Priester, Hunts
Aufnahme in den Jesuitenorden und seinen Aufstieg zum Pönitentiar
am Stuhl von St. Peter in Rom. Ferner das höchst wahrscheinliche
Studium des Dichters am Collegium Anglicum, das sich zu dieser Zeit in
Reims befand, Shakespeares illegale und geheime Tätigkeit als Lehrer
und Beschützer der Priester bei den katholischen Hoghtons in Lancashire,
seine mögliche Verbindung zu einer weiteren katholischen Rekusantenfamilie
in Lancashire, den Heskeths. Auch der Ausbruch des Krieges zwischen England
und Spanien im Jahre 1585 und die Tatsache, daß Stratford dem jungen
Shakespeare wohl keine befriedigende Perspektive zu bieten hatte, könnten
eine Rolle gespielt haben. Am wichtigsten aber war wohl, daß dem
Dichter - als bezahltem Mitglied einer katholischen Geheimorganisation,
die die jesuitischen Missionspriester schützte - der Boden unter
den Füßen zu heiß wurde und daß jeglicher Kontakt
zu den Jesuiten ab 1585 Hochverrat war.
Mir wurde - aufgrund dieser zahlreichen und sich verdichtenden
Indizien - immer mehr klar, daß sich der junge Shakespeare in dieser
gefährlichen Situation im Februar 1585 auf den Kontinent begeben
hat, und zwar nach Reims und Rom, also dorthin, wo er Glaubensgenossen
und Freunde hatte. In Rom - und das ist besonders signifikant - fand in
diesem Jahr ein Treffen der englischen Exil- und Kryptokatholiken statt,
auf dem neue (auch militärische) Strategien der Rekatholisierung
Englands entwickelt wurden. Der friedliche Weg der Missionierung war durch
die rigide antikatholische Gesetzgebung und die blutige Verfolgung der
katholischen Priester praktisch gescheitert. Das Blatt hatte sich 1585
längst gewendet.
Rom hatte im übrigen für die Studierenden
von Reims (bzw. Douai), auch die ehemaligen, eine ganz besondere Anziehungskraft.
In Rom befanden sich überdies William Allen und Pater Robert Parsons.
In St. Peter in Rom lebte und wirkte ferner - wie eingangs erwähnt
- Shakespeares Stratforder Lehrer Simon Hunt als jesuitischer englischer
Beichtvater.
Als das Buch bereits in der Drucklegungsphase war, habe ich mir eine ganz
besonders wichtige historische Quelle in Rom im Original angesehen, und
zwar eines der alten Pilgerbücher des dem Englischen Kolleg in Rom
angeschlossenen Pilgerhospizes. Es handelte sich um Pilgerbuch Nr. 282
mit Einträgen aus der Zeit von 1580 bis 1656, also auch aus der Zeit
der “verlorenen Jahre”. Dieses Hospiz war viel älter
als das Kolleg selber. Es wurde bereits im frühen Mittelalter gegründet.
Dort logierten praktisch alle englischen Pilger und Rom-Reisenden - auch
Protestanten und Puritaner (wie etwa John Milton) sowie Spione der englischen
Regierung. Bereits im März 2000 hatte ich Rom besucht und mir das
gesamte Kolleg zeigen lassen. Die entscheidende Quelle aber konnte ich
erst - nach längerer Voranmeldung - im Oktober 2000 einsehen. Zu
meiner großen Überraschung fand ich dort bekannte und vertraute
Namen, wie z.B. denjenigen des Gründers des Collegium Anglicum in
Douai - William Allen - , denjenigen des Urenkels von Thomas Morus, Charles
Bassett, der ein Mitglied der Catholic Association war. Ich fand ferner
den Namen des abtrünnigen katholischen Priesters, der Maria Stuart
später im Zusammenhang mit dem Babington-Komplott ans Messer lieferte:
Anthony Tyrrell. Der Renegat Tyrrell verriet sein Wissen an William Cecil,
Lord Burghley, den engsten Berater Königin Elisabeths I. Viele andere
englische Rom-Reisende aber benutzten Pseudonyme, so wie sich auch zahlreiche
Studierende an William Allens Kolleg in Douai bzw. Reims unter falschem
Namen immatrikulierten. Es handelte sich dabei um Vorsichtsmaßnahmen,
weil besonders die katholischen englischen Kollegien stark bespitzelt
wurden.
Aufgrund der zahlreichen Indizien, die für einen Rom-Aufenthalt Shakespeares
im Jahre 1585 sprachen, hatte ich gehofft, im Archiv des Collegium Anglicum
in Rom eventuell einen winzig kleinen, wie auch immer gearteten Hinweis
auf die Präsenz des Dichters an diesem Ort und in diesem Jahr finden
zu können. Zu meiner großen Verblüffung fand ich in Pilgerbuch
Nr. 282 sogar mehrere Einträge für die Zeit der “verlorenen
Jahre”, die auf Shakespeare hindeuteten. Sie enthielten das höchst
aufschlußreiche Pseudonym “Stratfordus”. Anfang Februar
1585 - nach der Geburt seiner Zwillinge - hatte William Shakespeare seine
Heimatstadt Stratford fluchtartig verlassen. Die bekannte Erklärung,
dies sei aus Furcht vor Strafe wegen Wilderns geschehen, war wohl nur
ein Vorwand, um die oben genannten wahren Gründe zu verschleiern.
Der Dichter ist dann erst wieder 1592 nachweisbar, und zwar als beneideter
Bühnenautor in London.
Rund 8 Wochen nach Shakespeares Weggang aus Stratford,
nämlich am 16. April 1585 gregorianischer Zeitrechnung, ließ
sich im Pilgerbuch des Englischen Kollegs in Rom ein gewisser “Arthurus
Stratfordus Wigorniensis” eintragen. Dies war für mich ein
deutlicher Hinweis auf Shakespeare. Der Dichter, der stets eine besondere
Beziehung zu der Stadt hatte, in der er geboren wurde, hatte den Namen
seiner geliebten Heimatstadt Stratford, die damals praktisch unbekannt
war, als Pseudonym benutzt. Völlig korrekt gab er als Diözese
Worcester an und als Vornamen keinen geringeren als den des legendären
Königs der englischen Vorgeschichte: Arthur. Mein weiterer Fund stammt
aus dem Jahr 1587 und war ein Blending: “Shfordus Cestrensis”.
Das “Sh” stand offenbar für Shakespeare und “fordus”
als Backclipping für Stratfordus. “Cestrensis” war übrigens
der Name der Diözese Chester, zu der die Grafschaft Lancashire gehörte,
in der der Dichter von 1580 bis 1582 sein erstes zweijähriges berufliches
Engagement im englischen Kryptokatholizismus hatte. Der dritte von mir
aufgespürte Eintrag fand sich unter 1589 und lautete: “Gulielmus
Clerkue Stratfordiensis”, im Klartext “William, Sekretär
aus Stratford”. Ich war verblüfft. Denn dies war ein noch deutlicherer
Hinweis auf Shakespeare. Der Besucher aus Stratford, der wenige Jahre
später große Berühmtheit erlangen sollte, hatte diesmal
nicht nur den Namen seiner Heimatstadt, sondern sogar seinen richtigen
Vornamen angegeben und darüber hinaus die Funktion angedeutet, die
er damals ausübte. Er war in regelmäßigen Abständen
von jeweils zwei Jahren nach Rom gekommen: 1585, 1587 und 1589. Unter
1591 fand ich eine stark beschädigte Seite mit einer ganzen Reihe
von runden Löchern und einer Stelle, an der - offenbar schon vor
Jahrhunderten - ein ganzer Eintrag komplett mit der Feder herausgestochen
worden war. Natürlich läßt sich heute wohl nicht mehr
feststellen, welcher Name dort einmal gestanden hat. 1591 ist aber das
letzte in den “lost years” in Frage kommende Jahr für
einen Rom-Aufenthalt Shakespeares, legt man erneut ein Intervall von zwei
Jahren zugrunde.
Für die ungewöhnlich radikale Maßnahme
der Namensentfernung muß es einen gewichtigen Grund gegeben haben.
Daß es sich um einen Akt der damnatio memoriae, also der
Auslöschung der Erinnerung an eine bestimmte Person, durch die Kollegleitung
gehandelt haben könnte, ist eher unwahrscheinlich. Denn selbst der
Name des abtrünnigen Priesters Tyrrell blieb - wie bereits erwähnt
- voll erhalten. Sollte dieser Eintrag (gleichfalls) einen mehr oder weniger
deutlichen Hinweis auf Shakespeare enthalten haben, hätte sich vielmehr
ein späterer (protestantischer bzw. puritanischer) Besucher, dem
Shakespeares Katholizismus ein Dorn im Auge war, zu einem solchen Schritt
hinreißen lassen können. Einer der größten Verehrer
Shakespeares in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts war der Puritaner
John Milton. Er war 1638/39 in Italien und in Rom und hat nachweislich
im Pilgerhospiz des Englischen Kollegs logiert und diniert, wobei er den
englischen Jesuiten durch seine Ausführungen zum Thema Religion unangenehm
auffiel. Milton könnte somit als Verursacher der Beschädigung
in Frage kommen. Das aber ist nur eine Hypothese, wenngleich eine sehr
reizvolle.
Hinsichtlich der übrigen drei Einträge, deren
signifikantes Merkmal der vollständige oder angedeutete Name der
Stadt Stratford ist und die exakt in die Zeit der “verlorenen Jahre”
fallen, dürfte es sich aber wohl kaum um merkwürdige Zufälle
handeln, sondern eher um Bestätigungen dafür, daß William
Shakespeare aus Stratford-upon-Avon in dieser bisher völlig dunkel
gebliebenen Phase seines Lebens Rom tatsächlich mehrfach besucht
hat. Genau darauf hatten alle zuvor von mir zusammengetragenen Indizien
hingedeutet. Bezeichnenderweise taucht das Pseudonym “Stratfordus”
nur in den “lost years” und im Jahre 1613 auf. Diese Belege
aus einer erstrangigen historischen Quelle, die den Ort 400 Jahre lang
nicht verlassen hat, fügen sich somit absolut stimmig und plausibel
in die Vita William Shakespeares ein.
Das Jahr 1613 markiert im Leben Shakespeares eine Wende.
In diesem Jahr regelte der Dramatiker seine Londoner Angelegenheiten und
zog sich daraufhin wohl endgültig nach Stratford zurück. Das
erneute und letztmalige Auftauchen des Pseudonyms “Stratfordus”
im Pilgerbuch des Englischen Kollegs in Rom läßt sich nun als
Indiz dafür deuten, daß der Dramatiker am Ende seiner glanzvollen
und ruhmreichen beruflichen Karriere abschließend noch einmal nach
Rom gereist ist, wobei er wiederum den Namen seiner Heimatstadt als Tarnung
benutzte. Als Vornamen wählte er diesmal “Ricardus” -
offensichtlich zum Gedenken an seinen am 4. Februar 1613 in Stratford
beerdigten Bruder Richard, ein Name, der im übrigen auch der Vorname
seines väterlichen Großvaters war.
Damit stand für mich fest, in welchen Kreisen sich
William Shakespeare in den sieben “lost years” aufgehalten
hatte. Auf welche Weise er seinen Horizont erweitern konnte. Wo er seine
geografischen Kenntnisse erwerben konnte.
Viele Stellen im Werk Shakespeares lassen sich nun ganz
anders lesen und deuten. Der Dichter kannte die Geographie Ober- und Mittelitaliens
sehr genau. Er kannt auch die damals übliche Praxis des Geldwechsels
in Florenz. Dies zeigt eine Textstelle in Der Widerspenstigen Zähmung
(The Taming of the Shrew). Ein Reisender aus Mantua, der in Florenz
Geld gewechselt hat, macht in Padua Station und erklärt, Padua sei
sein Ziel nur für einige Wochen. Dann werde er weiter nach Rom reisen.
Da es für einen elisabethanischen Autor aber wegen der strengen Zensur
gefährlich war, Rom zu kennen oder auch nur zu nennen, läßt
Shakespeare seinen Reisenden eher unmotiviert nachschieben, von Rom werde
er nach Tripolis weiterreisen. Welches Tripolis auch immer gemeint war,
es war unverdächtig.
Auch die englischen Jesuiten, Weltgeistlichen und Studierenden
des Collegium Anglicum in Douai bzw. Reims reisten bzw. pilgerten zu Wasser
und zu Lande nach Rom, und zwar über Paris und Lyon nach Marseille,
von dort mit dem Segelschiff nach Genua, dann über Florenz und Siena
nach Rom. Wie die Quellen berichten, rissen sich die jungen Priester und
Studenten des Kollegs geradzu darum, nach Rom reisen zu dürfen.
Sie haben noch einen weiteren entscheidenden Beleg
für Shakespeares Katholizismus gefunden und dafür, daß
der Dichter sogar einen wesentlichen Beitrag zum Überleben seiner
unterdrückten Religion geleistet hat. Worum handelt es sich bei diesem
Beleg?
HAMMERSCHMIDT-HUMMEL: Ich habe tatsächlich noch einen zusätzlichen
dokumentarischen Beleg für Shakespeares Katholizismus aufgefunden,
der bisher in seiner eigentlichen Bedeutung übersehen wurde. Dieses
historische Zeugnis zeigt überdies, wenn man es richtig befragt,
daß der Dichter mit erheblichen finanziellen Eigenmitteln zum Fortbestand
der alten Religion beigetragen hat. Im März 1613 kaufte er für
insgesamt 140 Pfund das östliche Torhaus der alten Klosteranlage
Blackfriars in London. Für sein repräsentatives Anwesen New
Place in Stratford hatte Shakespeare 1597 60 Pfund gezahlt. Wie bereits
erwähnt, regelte er 1613 seine Angelegenheiten in London, um sich
endgültig nach Stratford zurückziehen zu können. Seine
Investitionen in Haus- und Grundbesitz hat Shakespeare stets in Stratford
getätigt. Der Erwerb des Torhauses in London stellt eine große
Ausnahme dar. Weder der Dichter noch seine Familie haben - soweit bekannt
- jemals in diesem Haus gewohnt. Ungewöhnlich und zugleich aufschlußreich
ist die Art und Weise des Erwerbs: Der Hauskauf in Blackfriars erfolgte
zusammen mit drei Treuhändern, die dafür Sorge trugen, daß
der Zweck der Erwerbung auch über den Tod Shakespeares hinaus erfüllt
wurde. Worin aber bestand dieser Zweck?
Ich habe mir den Kaufvertrag, die überlieferten
Beschreibungen des Gebäudes und vor allem auch seine Nutzung durch
die Vorbesitzer sehr genau angesehen. Dieses Torhaus war, als Shakespeare
es kaufte, bereits seit Jahrzehnten die Anlaufstelle für flüchtige
katholische Priester. Dort fanden sie Unterschlupf, und es wurde für
ihre Verpflegung gesorgt. Von dort aus gelangten sie an die Anlegestelle
an der Themse und konnten per Boot und Schiff auf den Kontinent entkommen.
Shakespeare hat erhebliche Vermögenswerte in dieses Objekt gesteckt
und auf diese Weise dafür gesorgt, daß es auch in Zukunft demselben
Zweck dienen konnte. Wie seine Vorbesitzer hatte auch er einen Pächter.
Von den früheren Pächtern wissen wir, daß sie unter Lebensgefahr
die notleidenden katholischen Priester beherbergten und ihnen zur Flucht
verhalfen.
In der Retrospektive zeigt sich, daß das ganze
glänzend arbeitsteilig organisiert war. Die Treuhänder waren
William Johnson, Eigentümer der berühmten Mermaid Tavern in
London, John Jackson, Schiffsmagnat, und John Heminge, Business-Manager
der Shakespeareschen Theatertruppe. Shakespeare konnte für Unterkunft,
Schutz und Fluchthilfe der Priester sorgen, Johnson für ihre Verpflegung
und Jackson für ihren Transport außer Landes. Heminge dürfte
alles dies organisiert und koordiniert haben. Das rund 200 Meter von Shakespeares
Torhaus entfernte Blackfriars Theatre konnte zudem Perücken, falsche
Bärte und Kostüme stellen.
Shakespeares Haus in Blackfriars war der vielleicht wichtigste
Stützpunkt des englischen Kryptokatholizismus in England. Von dort
gab es eine direkte Verbindung zu Parsons’ Jesuitenkolleg in St.
Omer, südlich von Calais, das als kontinentaler Brückenkopf
diente. Wir haben es daher mit einer der bedeutendsten Organisationsformen
des englischen Kryptokatholizismus zu tun. Shakespeare, der dafür
große Teile seines Vermögens einsetzte, hat auf diese Art und
Weise entscheidend zum Überleben der gesetzlich verbotenen und verfolgten
alten Religion beigetragen. Nach der Pulververschwörung (1605) fand
John Gerard - er war nach dem Superior Henry Garnett der bedeutendste
Jesuit Englands - im östlichen Torhaus von Blackfriars Unterschlupf
und konnte so seinen Häschern entkommen. Garnett aber wurde ergriffen
und nach einem großen Schauprozeß zum Tode verurteilt und
hingerichtet.
Der urkundlich belegte Hauskauf Shakespeares in Blackfriars
ist der bisher wichtigste dokumentarische Beleg dafür, daß
der Dichter - wie schon in seiner Jugend - auch gegen Ende seines Lebens
konkrete und bedeutende Maßnahmen zum Schutz katholischer Priester
und zum Fortbestand des in seiner Existenz bedrohten englischen Katholizismus
getroffen hat, wobei er nicht nur sein Leben riskierte, sondern auch das
seiner Familienangehörigen.
Sieben Jahre nach Shakespeares Tod kam es in einem Torhaus von Blackfriars
bei einem Deckeneinsturz zu einem schweren Unglück. Es handelte sich
- wie ich in Zusammenarbeit mit einem Architekten herausgefunden habe
- um das nördliche Torhaus der ehemaligen Klosteranlage. Das 3. Stockwerk
dieses Gebäudes wurde heimlich als katholische Kirche genutzt. Während
eines sonntäglichen Gottesdienstes, bei dem die Menschen dicht gedrängt
standen, brach die Decke ein, durchschlug die darunterliegende Decke und
stürzte auf das Torgewölbe. Rund einhundert Menschen starben.
Ein antikatholischer Anschlag konnte weder bestätigt noch ausgeschlossen
werden.
Auf einem zeitgenössischen Stich und einem Gemälde
der Shakespearezeit konnte ich dieses Torhaus identifizieren. Der Stich
stammt aus dem Jahre 1588 und zeigt im Vordergrund Elisabeth I. mit ihrem
Gefolge auf dem Weg nach St. Paul’s, wo anläßlich des
englischen Siegs über die Armada ein Dankgottesdienst stattfand.
An den Fenstern in der ersten Etage befinden sich zahlreiche vornehm gekleidete
Menschen, die den Zug der Königin beobachten. An den Fenstern der
oberen Stockwerke aber ist bezeichnenderweise niemand, der den Zug beobachtet.
In der belle étage residierte der französische Botschafter,
der einen Geheimzugang zu dieser Kirche hatte und der natürlich auch
eine Schutzfunktion ausübte.
Durch die Katastrophe von Blackfriars im Jahre 1623 war ans Tageslicht
gekommen, daß auch das nördliche Torhaus im Dienst des englischen
Krypto-Katholizismus stand und nicht nur eine katholische Kirche, sondern
auch ein katholisches Seelsorgezentrum beherbergte. Zu dieser Zeit dürfte
das östliche Torhaus, in das William Shakespeare große Vermögensteile
gesteckt hatte, noch im Besitz seiner Familie gewesen sein. Seine Tochter
Susanna Hall hatte 1618 - offensichtlich einvernehmlich mit den alten
Treuhändern - die Treuhänderschaft in andere Händer übergehen
lassen. Shakespeares Verfügungen wurden somit auch nach seinem Tod
erfüllt.
Einer katholischen Tradition zufolge wurde der Dichter
an seinem Sterbebett von einem Benediktiner betreut. Vieles spricht dafür,
daß er auch in seinem vornehmen Anwesen New Place in Stratford Priester
beherbergt hat. Unmittelbar nach dem Erwerb dieses ehemaligen Adelshauses
nahm Shakespeare bauliche Veränderungen vor. Den Rest der Steine
verkaufte er an die Stadt. Es ist bekannt, daß der elisabethanische
Landadel Umbaumaßnahmen in der Regel dazu nutzte, geheime und gut
getarnte Priesterverstecke einzurichten. Viele dieser “Priesterlöcher”
(“priest holes”) wurden erst sehr viel später in der
überkommenden Bausubstanz entdeckt und identifiziert. Im Falle von
New Place war dies nicht möglich. Ein protestantischer Geistlicher,
der das große repräsentative Gebäude im 18. Jahrhundert
erworben hatte, ließ es schon nach wenigen Monate niederreißen
- angeblich deshalb, weil er sich von Touristen belästigt fühlte,
die Shakespeares Haus zu sehen wünschten. Der angegebene Grund aber
dürfte nur ein Vorwand gewesen sein. Der protestantische Geistliche
könnte im Hause Shakespeares, der zu dieser Zeit bereits als (protestantischer)
Nationalheros verehrt wurde, auf etwas gestoßen sein, das den Dichter
als Anhänger des katholischen Glaubens auswies.
Warum wurde Shakespeare Schauspieler und Dramatiker,
wenn er als überzeugter Katholik helfen wollte?
HAMMERSCHMIDT-HUMMEL: Das war seine Begabung. Er ist ja auch nicht Priester
geworden. Er hat ganz offensichtlich in Reims - wie viele andere junge
englische Katholiken -lediglich die geisteswissenschaftliche Grundausbildung
erhalten. Das Konzept an Allens Kolleg war jesuitisch orientiert. Wie
bei der jesuitischen Ausbildung standen Theater und Rhetorik im Zentrum.
Und: Man schrieb und spielte Historiendramen, die stets ein moralisch-didaktisches
Anliegen hatten. Das war der entscheidende Punkt. Die Geschichte lieferte
sozusagen die Beispiele, abschreckende oder nachzuahmende, aus denen Lehren
für die Gegenwart gezogen werden sollten. Solche Absichten verfolgte
auch Shakespeare mit seinen Historiendramen. So ließen die Verschwörer
am Vorabend der Essex-Rebellion (1601) Shakespeares Historie Richard
II. aufführen. Richard hatte
seine königlichen Pflichten eklatant verletzt und
wurde daher abgesetzt. Elisabeth I. sollte mit diesem Stück der Spiegel
vorgehalten werden. Ihr wurde herrscherliche Pflichtverletzung vorgeworfen,
weil sie es versäumt hatte, ihre Nachfolge zu regeln.
Shakespeare Dramen aber vermitteln auch hohe moralische
Werte - und ein Weltbild, das katholisch geprägt ist. Doch macht
sich der Dramatiker keineswegs zum Sprachrohr des Katholizismus. Aber
katholische Priester, Mönche und Nonnen werden positiv erwähnt.
In den Sonetten finden sich verhaltene Klagen über die Ruinen der
ehemals blühenden Klöster. Darin äußert sich Kritik
an der Zerstörung der englischen Klosterkultur durch Heinrich VIII.,
der den Bruch mit Rom vollzog, den seine Tochter Elisabeth I. kurz nach
ihrem Regierungsantritt erneuerte und festigte. In Shakespeares Weltbild
spielt - wie bei keinem anderen Dramatiker seiner Zeit - die göttliche
Gnade eine ungewöhnlich große Rolle. In dem bewegenden Monolog
der Portia im Kaufmann von Venedig (The Merchant of Venice) heißt
es:
Die Art der Gnade weiß von keinem Zwang.
Sie träufelt, wie des Himmels milder Regen,
Zur Erde unter ihr, zwiefach gesegnet:
Sie segnet den, der gibt, und den, der nimmt;
Am mächtigsten in Mächt’gen, zieret sie
Den Fürsten auf dem Thron mehr als die Krone;
Das Zepter zeigt die weltliche Gewalt,
Das Attribut der Würd’ und Majestät,
Worin die Furcht und Scheu der Kön’ge sitzt.
Doch Gnad’ ist über dieser Zeptermacht,
Sie thronet in dem Herzen der Monarchen,
Sie ist ein Attribut der Gottheit selbst,
Und ird’sche Macht kommt göttlicher am nächsten,
Wenn Gnade bei dem Recht steht; [...]
wir beten all’ um Gnade,
Und dies Gebet muß uns der Gnade Taten
Auch üben lehren.
Haben Sie vielen Dank für dieses Gespräch.”
Mit 5 Abbildungen: (1) Porträt der
Autorin, (2) Das sogenannte Flower-Porträt William Shakespeares von
1609 ist über ein Madonnenbild aus dem 15. Jahrhundert gemalt, (3)
Ansicht von Hoghton Tower in Lancashire (Ausschnitt), (4) Das englische
Kolleg in St.-Omer (südlich von Calais) wurde 1593 von Robert Parsons
gegründet, (5) Elisabeth I. auf dem Weg zur Siegesfeier, im Hintergrund
das Torhaus mit dem geheimen Versammlungsraum der Katholiken.
[Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung
der Dr. Böttiger Verlags-GmbH, Bahnstr. 9a, 65205 Wiesbaden, Telefon:
0611/77861-0, Fax: 0611/77861-18, E-mail: ibykus@solidaritaet.com]
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