(Falls Sie eine Seitennavigation vermissen, weil Sie diese Seite von einer Suchmaschine [z.B. Google] aus aufgerufen haben, klicken Sie bitte auf den o.a. Link.)
Aktualisiert: 01. Oktober 2007 / updated: 01 October 2007
Die Shakespeare-Illustration (1594-2000). Bildkünstlerische
Darstellungen zu den Dramen William Shakespeares: Katalog, Geschichte, Funktion
und Deutung. 3 Teile
[Shakespearian Illustrations (1594-2000). Pictorial representations
to the plays of William Shakespeare: Catalogue, history, function and interpretation.
3 Vols.]
c. Auszug aus “Geschichte, Funktion und Deutung”
/ Excerpt from: ‘History, function and interpretation’
Geschichte, Funktion und Deutung bildkünstlerischer Werke zu Shakespeares
Dramen
Beispiele der Text-Bild-Relation im kultur- und stilgeschichtlichen Kontext
Die Geschichte der Shakespeare-Illustration markiert einen signifikanten
Teilbereich der europäischen und anglo-amerikanischen Kulturgeschichte.
Wesentliche Tendenzen und Erscheinungsformen der Literatur-, Kunst- und
Theatergeschichte (aber auch der Geschichte der Lebensstile, der Mode
und des Geschmacks) spiegelnd, nimmt sie bereits in der frühen Schaffensphase
William Shakespeares (1564-1616) ihren Anfang, zu einer Zeit also, als
die großen Tragödien Hamlet, Othello, King Lear und Macbeth
noch nicht geschrieben waren, der Name des Autors jedoch schon ein Publikumsmagnet
des jungen elisabethanischen Theaters war.
Der hier vorzunehmende historische Überblick möchte die wesentlichen
Strömungen und Entwicklungen der vierhundertjährigen bildkünstlerischen
Rezeptions- und Wirkungsgeschichte der Dramen Shakespeares in der Bildkunst
anhand repräsentativer Beispiele registrieren und - interdisziplinär
- unter Berücksichtigung kunst- und theaterwissenschaftlicher, soziokultureller
und literarhistorischer Konzepte in ihren kulturgeschichtlichen Zusammenhängen
untersuchen.
Die Shakespeare-Illustration in Renaissance und Barock
Bei den ersten Bildzeugnissen zu den Dramen William Shakespeares,
die bereits während seiner Lebenszeit entstanden, handelt es sich
um eine Federzeichnung zu seiner vermutlich frühesten Tragödie
und um ein steinernes Monument zu einer seiner frühen Komödien.
Letzteres ist ein Oktogon mit Inschrift und Reliefs (Abb. 001), das sich
im Garten von New Place, Shakespeares Residenz in Stratford, befindet
und offensichtlich von ihm selbst (oder seiner Familie) in Auftrag gegeben
wurde. Als Entstehungszeit kommen die Jahre unmittelbar nach dem Erwerb
des Anwesens im Jahre 1597 in Frage, als der Dramatiker es seinen Vorstellungen
und Wünschen gemäß umgestalten ließ. Die Datierung
wird bestätigt durch ein paläographisches Fachgutachten. Die
heute stark verwitterte und unleserlich gewordene Inschrift befindet sich
auf der dem Garten zugewandten Seite des Oktogons. Die sieben übrigen
Seiten sind mit kunstvollen figürlichen Reliefs geschmückt,
die im Verlauf der Jahrhunderte ebenfalls stark gelitten haben.
Das Oktogon hat in der Shakespeare-Forschung, soweit bekannt, bisher keine
Beachtung gefunden. Seine Inschrift und Illustrationen wurden offenbar
nicht wahrgenommen oder für nicht erwähnenswert gehalten und
nicht identifiziert. Der Verfasserin gelang die Rekonstruktion des Textes.
Es handelt sich um eine Stelle aus Shakespeares As You Like It (II, 7)
über die sieben Lebensalter, zu der der Dichter durch die aus dem
Mittelalter überlieferte Vorstellung von den sieben Stadien der menschlichen
Existenz (Abb. 2) angeregt worden sein könnte:
|
ALL THE WORLDS
A STAGE AND ALL
THE MEN AND WOMEN
MERE PLAYERS
THEY HAVE THEIR
EXITS AND THEIR
ENTRANCES AND
ONE MAN IN HIS TIME
PLAYS MANY PARTS
HIS ACTS BEING SEVEN
AGES
DIE GANZE WELT
IST BÜHNE, UND ALLE
FRAU´N UND MÄNNER
BLOßE SPIELER.
SIE TRETEN AUF
UND GEHEN WIEDER AB,
SEIN LEBEN LANG
SPIELT EINER MANCHE ROLLEN
DURCH SIEBEN AKTE HIN. |
[Übersetzung: August Wilhelm Schlegel]
Diese Worte des Shakespeareschen Philosophen und Melancholikers
Jaques haben die Künstler späterer Jahrhunderte immer wieder
zu bildlicher Darstellung inspiriert (vgl. Bd. 2, Abb. 892 ff.). Das Oktogon
belegt, daß auch Shakespeare selber und/oder seine Familie diese
Textstelle besonders geschätzt und ihre Visualisierung veranlaßt
haben. Die Wahl des Stückes könnte auch damit zusammenhängen,
daß die großen Meisterwerke (Hamlet, Othello, King Lear und
Macbeth) noch nicht geschrieben waren - sie alle entstanden erst nach
der Essex-Rebellion (1601) und Shakespeares Wende zum Tragischen - und
der Dramatiker As You Like It anscheinend gut ein Jahr nach dem Erwerb
und Umbau von New Place überarbeitete und abschloß, aber nicht
veröffentlichte. Der Druck des Textes mit seinen zahlreichen kritischen
Zeitbezügen hätte den Autor mit Sicherheit gefährdet. So
nimmt es nicht wunder, daß diese Komödie - wie rund die Hälfte
aller Shakespeareschen Stücke - erst im Jahre 1623 erschien, also
sieben Jahre nach dem Tod des Dichters, und zwar in der von seinen Freunden
und Kollegen John Heminge und Henry Condell besorgten First Folio Edition.
Das Oktogon verdeutlicht Shakespeares Vorliebe für die bildenden
Künste, die uns aus seinem Werk bekannt ist. In The Winter’s
Tale (V, 2) nennt der Dramatiker den Raffael-Schüler Guilio Romano
(ca.1499-1546) beim Namen. Es ist zu vermuten, daß er die Arbeiten
dieses Künstlers, den er als ”rare Italian master” rühmt,
in Italien kennengelernt hat.
Die von einem unbekannten Künstler auf sieben Tafeln des Oktogons
geschaffenen Reliefs sind exakte Verbildlichungen des Shakespeareschen
Textes (vgl. As You Like It, II, 7, 139-143). Sie führen vor Augen,
daß der Dichter - in Übereinstimmung mit der auf Simonides
und Horaz zurückgehenden und in der Renaissance wiederbelebten Ut
pictura poesis-Konzeption - von der Gleichrangigkeit von Text und Bild
ausging. Die ausgewählten Beispiele zeigen das sechste und das siebte
Lebensalter (Abb. 003 und Abb. 004).
In Verbindung mit der lateinischen und der englischen Inschrift auf der
schwarzen Marmortafel unterhalb der Grabbüste Shakespeares in der
Dreifaltigkeitskirche in Stratford, die Größe und Genialität
des Dichters hervorheben und ihn mit Nestor, Sokrates und Vergil auf eine
Stufe stellen, ist das Monument im Garten von New Place nun als das wohl
wichtigste zeitgenössische Bild- und Textzeugnis für die Autorschaft
des Stratforder Bürgersohns an den weltberühmten Dramen anzusehen.
Das Oktogon diente offensichtlich als Postament für eine Plastik
oder einen anderen dekorativen Gegenstand. Die Erörterung der verschiedenen
Möglichkeiten mit einem Experten führte unter Berücksichtigung
gegebener Tatsachen zu der Annahme, daß es sich um eine Sonnenuhr
(Blocksonnenuhr) gehandelt hat, wie sie für die Zeit um 1600 belegt
ist.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts fand man unter den Manuskripten der Bibliothek
des Marquess of Bath in Longleat House bei Warminster in der Grafschaft
Wiltshire eine Federskizze, die als Illustration zu Shakespeares früher
und publikumswirksamer Rachetragödie Titus Andronicus (Abb. 1807)
identifiziert wurde. Die 1907 katalogisierte Zeichnung stammt - wie auf
dem Blatt von späterer Hand vermerkt - von dem jungen, in London
aufgewachsenen Cambridge-Absolventen Henry Peacham. Sie trägt ein
Datum, das als 1594 oder 1595 zu deuten ist. Ein Eintrag im Diarium des
Theatermanagers Philip Henslowe belegt, daß Titus Andronicus (vermutlich
erstmals) am 24. Januar 1594 auf der Bühne gespielt wurde. Nur rund
14 Tage später, am 6. Februar 1594, ließ der Londoner Drucker
John Danter die erste Quartausgabe des Stückes unter dem Titel ”a
Noble Roman Historye of Tytus Andronicus” in das Londoner Drucker-
und Buchhändlerverzeichnis (Stationers’ Register) eintragen
- zusammen mit einer Ballade zum selben Thema. Angesichts der Tatsache,
daß die Londoner Theatertruppen ‘ältere’ Dramen
zu meiden pflegten, weil die Theaterbesucher neue Stücke zu sehen
wünschten, ist die Wahrscheinlichkeit eher gering, daß die
Zeichnung erst im Jahre 1595 entstand, für das zudem keine Aufführung
nachgewiesen ist. Wahrscheinlicher ist, daß sie 1594 geschaffen
wurde, als Shakespeares Sensationsstück für Furore sorgte und
Besucher in großer Zahl anlockte - vermutlich auch den jungen Henry
Peacham. Daher wird hier das Jahr der ersten Aufführung als Entstehungsjahr
zugrunde gelegt.
Nach derzeitigem Stand ist Peachams Arbeit die älteste Shakespeare-Illustration.
Ihre Bildunterschrift lautet: ”Enter Tamora pleadinge for her sonnes
going to execution”. Dargestellt ist das Tableau der Eingangsszene
des Stückes: der siegreiche römische Feldherr Titus Andronicus
mit Gefolge auf der linken und die gefangene Gotenkönigin Tamora
mit ihren Söhnen sowie dem Mohren Aaron auf der rechten Seite.
Während Peachams Illustration anfangs nur wenig Aufmerksamkeit fand,
ist sie ab den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts verstärkt Gegenstand
literaturhistorischer Untersuchungen gewesen. Die Frage, ob das früheste
(bekannte) bildkünstlerische Werk zu einem Shakespeare-Drama eine
Bühnenzeichnung ist, d. h. während (und/oder unmittelbar nach)
einer Aufführung des Stückes entstand, wurde bisher nicht oder
nicht überzeugend beantwortet. Nach eingehenden Untersuchungen des
soziokulturellen Hintergrunds der Shakespearezeit, der divergierenden
Text-Bild-Relation und schließlich unter Heranziehung theatersemiotischer
Kriterien (einschließlich des theatralischen Zeichencodes des Barockzeitalters)
gelangte ich zu dem Schluß, daß tatsächlich eine Londoner
Theaterszene wiedergegeben wurde und die dargestellten Personen elisabethanische
Schauspieler sind.
Ein entscheidendes Indiz dafür, daß hier auf der Bühne
agierende Schauspieler festgehalten wurden, ist der bei Tamora deutlich
erkennbare Adamsapfel. Damit wird der bekannte Sachverhalt, daß
die weiblichen Rollen von männlichen Darstellern gespielt wurden,
bestätigt. Meine auf Bildvergleichen mit zeitgenössischen Burbage-Porträts
gründende These, bei dem Darsteller der Tamora müsse es sich
um Richard Burbage handeln, wurde durch das kriminaltechnische Bildgutachten
des von mir 1995 konsultierten Sachverständigen beim Bundeskriminalamt
bestätigt. Dieses Ergebnis sowie die Tatsache, daß Burbage
und Shakespeare im Jahre 1594 an die Spitze der neu formierten Theatertruppe
The Chamberlain’s Men traten, die führenden Rollen spielten
und Weihnachten dieses Jahres - zusammen mit dem Komiker William Kempe
- vor der Königin auftraten, legen die Annahme nahe, daß die
Titelrolle von Shakespeare selber gespielt und er in Peachams Zeichnung
als siegreicher Feldherr Titus Andronicus figuriert.
|
|